cgboard - classic games

Normale Version: Hagen Rether in Chemnitz
Du siehst gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
[Bild: Staub-aufgewirbelt-und-das-Gewissen-poli...elQuer.jpg]

Was war das für ein Abend! Es war Punkt 20:00, da betrat der gebürtige Rumäne, der seit den 60ern in Essen lebt und dort u.a. Musik studierte, die Bühne der Chemnitzer Stadthalle. Um es gleich vorneweg zu sagen. Hagen ist kein Mensch, der 70 Minuten sein Programm abspielt und dann wieder verschwindet. Die Vorstellung (inkl. 20 min. Pause) ging bis 23:30! Also etwas mehr als drei Stunden! Da können sich andere Künstler wirklich eine oder besser mehrere dicke Scheiben von abschneiden.

Inhaltlich bot Hagen Rether wieder das, was man erwarten konnte: nichts weniger als eine bissige Abrechnung der Politik, des Systems und der Gesellschaft. Seine bitteren Wahrheiten präsentierte in gewohnt ruhigen Stil. Er hinterfragte z.B. warum wir vor abstrakten Gefahren, wie den Islamismus, die ja eigentlich nur von den Medien hochgespielt werden, so fürchten. Letztes Jahr sind 70.000 Deutsche an Alkohol gestorben, hat deswegen jetzt jeder Angst vor eine Riesling? Was ist Rechte und was ist Linke Gewalt? "Linke Gewalt" sind Menschen, die Steine auf Glatzendemos auf Nazis werfen, die selbst kleine ausländische Kinder raus der straßenbahn werfen und unbescholtene Bürger das Gesicht brutalst auf den Bürgersteig zerschmettern. "Linke Gewalt" beschreibt Menschen die schicke Autos auf einer ATTAC-Demo mit Steinen bewerfen. Wusstest Ihr, dass man für einen tätlichen Angriff auf einen Polizisten 2 Jahre Gefängnis bekommt, für die Zerstörung eines Polizeiautos aber 5 Jahre? Hagen schafft es mit Leichtigkeit die Moralvorstellung der deutschen Wohlstandsgesellschaft ins Wanken zu bringen. Dazu betreibt er eine erfrischende Medienkritik - nicht gegen die Medien selbst, sondern den Konsumenten die sich dessen Irrsinn tagein tagaus ohne zu hinterfragen konsumieren.

Ein Highlight des Abends war für mich aber, als er vor der Pause das Publikum fragte: "Wissen Sie eigentlich, warum ausgerechnet Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde? Ich weiß es wirklich nicht - aber es würde mich brennend interessieren. Vielleicht ist das mal wieder ein Grund den Rechner an zuschmeißen." - Das Punlikum war doch etwas ratlos und wusste keine so rechte Antwort. NACH der Pause erzählte Hagen: "Mir hat das jetzt mal jemand erklärt, wie das damals war. Chemnitz war die 4. größte Stadt in der DDR. Berlin konnte man ja schon nicht umbenennen wegen der Teilung und der Mauer. Leipzig wollte man das nicht wegen der berühmten Messe antun. Und Dresden war damals die Kulturhauptstadt überhaupt in der DDR. Es blieb faktisch nur noch Chemnitz. So muss es doch gewesen sein, oder?" Jetzt die Pointe: das Publikum bejahte dies einhellig als ob man es natürlich wüsste, obwohl vorher niemand die Antwort geben konnte. Sehr entlarvend, oder? Das geile: bei jedem anderen Künstler würde man das übel nehmen - nicht bei Hagen. Bei Hagen weiß man worauf man sich einlässt, wenn man zu einem seiner Auftritte geht. Bei Hagen weiß man einfach, dass er den Zuschauer manchmal vor dem Kopf stoßen kann. ABER: Hagen nimmt sein Publikum auch ernst. Dies merkte man an vielen Kleinigkeiten, z.B. wie er mit seinem Publikum interagierte. Oder wie höflich und zuvorkommend er z.B. nach dem Auftritt beim Autogramme geben war. Da fällt mir ein: hat jemand wie Mario Barth es nötig seinen Fans Autogramme zu geben?

Man kann zusammenfassen, dass es sehr unterhaltsame und manchmal auch nachdenklich Stunden waren. Hagen schafft es mit einer bitterbösen Parodie von Grönemeyers "Männer" das Publikum minutenlang zum toben zu bringen. Er schafft es aber gleichermaßen das Publikum still zu zuhören zu bringen, wenn er auf seine satirische Art gesellschaftliche Themen auseinanderklamüsert und den Zuhörer einen anderen Blickwinkel näher zu bringen.

Kleine Randnotiz: ich saß ja in der ersten Reihe. Und Hagen schenkte mir am Ende des Auftritts die aktuelle CD "Liebe 3" für die er am Anfang des zweiten Teils Werbung gemacht hatte. Später, als ich mir die CD von ihm signieren (mit persönlicher Widmung!) ließ, habe ich ihn gefragt wie ich zu der Ehre kam - da ich das noch nie bei einem seiner Vorstellungen gesehen habe das er jemanden eine CD schenkte (habe ihn schon vor Chemnitz 3 mal live gesehen). Die Antwort hat mich wirklich gerührt. Denn er sagte, dass er es super fand wie ich mit meinen Klatschen das Publikum mitreißte (häufig war ich der "Vorklatscher" und viele haben dann mitgeklatscht) und das er es an meiner unfreiwilligen Mimik sehen konnte, wie sehr mitgerissen ich von seinen Auftritt war. Das hat mich wirklich gerührt, wie ein Künstler solch einen Blick auf SEIN Publikum hat. Und vor allem: das er solche Dinge auch wertschätzen kann und sich selbst (nach all den Jahren die er nun schon Kabarettist ist und mit allen Kabarett-Preisen ausgezeichnet wurde) über solche Dinge selbst noch freuen kann! Diese Sympathie und das er so auf den Boden geblieben ist, macht ihn für mich zu einem wirklich großen Künstler!
Ich kenne ihn nur über's Internet - seine Auftritte in der Anstalt (ZDF-Mediathek) und youtube - und finde seine Art auch äußerst angenehm.

Ich kenne aber einige Leute, die seine Art nicht abkönnen. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und wahrscheinlich liegt das daran, dass diese Leute zu der Zeit noch nciht so lange aus der Schule raus sind: Der Mann doziert.

Wie gesagt, ich finde gerade diese ruhige Art so toll wie Du.
Schon allein die Begegnung mit ihm in meinem letzten Absatz zeigt, dass er ein super sympathischer Mensch an dem sein Publikum wirklich was liegt. Wirklich: bei der Autogrammstunde war er so höflich und geduldig, andere sind da lange nicht so. Er hat Fragen beantwortet, man konnte Fotos machen, usw. Und schon seine Spieldauer spricht doch eigentlich Bände. Andere Leute stehen keine drei Stunden auf der Bühne!
Habe ihn auch schon in Bonn im Phanteon Live gesehen. Hat mir wirklich gut gefallen ich mag diese Gesellschaftskritische Ader von ihm.
Gerade das "Vor den Kopf stoßen" ist das was ich an ihm so schätze! Er bewegt die Leute zum Nachdenken!
Außerdem ist kein Auftritt gleich. Ich meine das Grundkonzept bleibt gleich, wie z.B. die Nummer:
Zitat:Original von JohnSheridan
[...] Hagen schafft es mit einer bitterbösen Parodie von Grönemeyers "Männer" das Publikum minutenlang zum toben zu bringen. [...]
Aber er schweift auch manchmal komplett ab und redet über aktuelle Brennpunkte oder was ihm gerade so in den Kopf kommt.
Auch die interaktion mit dem Klavier kommt bei mir persönlich sehr gut an, es lockert das manchmal doch sehr herbe Programm ein wenig auf!

Insgesamt kann ich also nur zustimmen, spitzen Künstler, ich würde auch immer wieder hingehen!


Was du im letzten Absatz beschreibst freut mich! In Bonn hat er damals auch noch lange Autogramme gegeben, außerdem lief er in der Pause auch im Vorraum des Theaters rum und unterhielt sich mit den Zuschauern.