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[Review] The Last Express (DOS/Windows, Brøderbund, 1996)
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The Last Express

[Bild: 954263283-00.jpg]


Heute möchte ich Euch The Last Express aus dem Jahr 1996 vorstellen. Dieses Spiel ist einer meiner ganz besonderen Lieblinge aus den letzten 20 Jahren. Es handelt sich dabei um ein First-Person-Adventure in pseudo-historischem Setting, das mit einigen faszinierenden Eigenschaften aufwartet, die im Genre ihresgleichen suchen.

Handlung

Das Wichtigste bei einem Adventure ist bekanntlich die Handlung desselben. The Last Express (TLE) schlägt bereits hierbei in eine ganz eigene Scharte: Es handelt im Jahr 1914, genauer gesagt in den letzten drei Tagen vor Kriegsausbruch – und spielt von Paris bis Konstantinopel. Allerdings sehen wir all die Städte – Paris, München, Wien, Budapest, etc. – nicht direkt, weil wir die ganze Zeit in einem Zug sitzen. Nicht in irgendeinem Zug, sondern im legendären Orient Express. Die letzte Fahrt dieses Juwels auf Gleisen begleiten wir als Robert Cath, amerikanischer Arzt mit dubioser Vergangenheit, der auf Bitte seines Freundes Tyler Whitney mitreist. Kurz nach einem etwas unkonventionellen Zustieg zum Zug (per Motorrad) stellt sich heraus: Whitney liegt tot in einer Lache seines eigenen Blutes in seinem Abteil. Damit die Reise nicht schneller aus ist, als sie begonnen hat, entledigt sich Cath geistesgegenwärtig der Leiche und nimmt kurzerhand deren Identität an. Die Aufgabe: Wir sollen herausfinden, wer von den Fahrgästen Whitney ermordet hat. Das klingt zunächst nach einem simplen Agatha Christie-Krimi, führt jedoch bald zu einer komplexer und komplexer werdenden Story. Denn die anderen Mitreisenden sind allesamt illustre Persönlichkeiten und Charaktere mit Geheimnissen – ein ominöser deutscher Fabrikant, eine undurchsichtige, österreichische Star-Geigerin, eine Gruppe serbischer Eigenbrötler, ein russischer Anarchist... alles, was an politischem, idealistischen, ökonomischem und kulturgeschichtlichem Potential in der „Belle Epoque“ vorhanden ist, findet in den zwei Luxuswaggons des Zuges zusammen. Alle Charaktere besitzen glaubwürdige Geschichten, sind tiefgründig erarbeitet und passen wirklich in das Setting, die historische Epoche und die Handlung. Bald enpuppt sich, dass Whitneys Tod Ergebnis einer weitreichenden politischen Angelegenheit ist und auch ein gehöriges Element Mystery dazu gehört... Die Handlung enthält viele Twists und spannende Momente, wird nicht langweilig und vermag einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Mehr sei aber hierzu nicht verraten...

Technik

Grafik

Als First-Person-Adventure betrachten wir in TLE das Intérieure des Orient Express aus den Augen des Protagonisten, unseres Alter Ego Robert Cath. In bekannter Myst-Manier bewegen wir uns durch sehr schön gerenderte, an originalen Zugwaggons orientierte Gänge, Abteils, Speisewagen und Salons. Hier begegnen wir den vielen Charakteren, die im Zeichenstil an Toulouse-Lautrec gemahnen, und sehr ansprechend, wenn auch simpel gestaltet sind. (Dass die Charaktere manchmal furchtbar ruckelig daherkommen liegt übrigens daran, dass der Speicherplatz auf den drei CDs durch die unzähligen vertonten Gespräche aufgefressen wurde). Durch ein angedeutetes „Vorbeiziehen“ der Landschaft an den Fenstern wird das Gefühl eines fahrenden Zuges angenehm unterstrichen.

Sound

Der Sound des Spiels ist für mich ein seltener Hochgenuss: Die deutsche Version wartet mit wirklich guten Sprechern auf - ich ziehe sie der englischen in allen Teilen vor. Die Musik ist zwar nur selten (in dramatischen Momenten, in den Sequenzen) zu hören, ist aber eingängig und unterstreicht die Atmosphäre gut.
Wirklich grossartig und einzigartig ist allerdings die Vielfalt der Sprachen, die wir in der Rolle des Weltenbummlers Cath ‚verstehen’: Während die französischen Schaffner des Zuges französisch sprechen („echtes“ Französisch, nicht akzentbelastetes Gestacksel), reden andere englisch, arabisch, russisch oder sogar serbisch. Durch Untertitel wird uns der Inhalt der Gespräche mehr oder weniger korrekt wiedergegeben. Das schafft einen ungeheuren Eindruck, sich in einem internationalen Umfeld zu befinden und ist ein gehöriger Bonus für die Atmosphäre.

Gameplay

Ein besonderes Merkmal des Gameplays von TLE ist die quasi-Echtzeit, in der die Spielwelt sich entwickelt. Wir befinden uns in einem Zug, in dem tatsächlich die Zeit abläuft (stets beobachtbar an der Uhr im Salonwaggon oder im Spielmenü), bis wir in Konstantinopel ankommen.
Das hat verschiedene Konsequenzen: Wir können nicht zu jeder Zeit an jedem Ort sein – das wiederum heisst, dass wir nicht alle Ereignisse in einem Durchgang mitbekommen werden.
Da sich die anderen Mitreisenden gemäss ihren eigenen Tagesabläufen durch den Zug bewegen – mal im Speisewagen dinieren, dann im Salon die Zeitungen lesen, im Korridor aus dem Fenster schauen etc. – schafft das eine ungeheure Dynamik: Die kurze Abwesenheit des Schaffners, der von einem Passagier gerufen wird, können wir ausnutzen, um dessen Passagierliste zu entwenden. Während ein Mitreisender seine Suppe im Speisewagen löffelt, können wir – vorausgesetzt, niemand beobachtet uns – in seinem Abteil herumschnüffeln. Das sind nur zwei Beispiele von möglichen Entscheidungen, die wir treffen können. Allgemein gilt: Wir können, wenn wir das wollen, eine Stunde im Salonwagen sitzen und die Zeitungen studieren (die übrigens den historischen Anstrich grandios untermauern: Sie enthalten alle Themen, die den Leser im Juni 1914 interessiert haben – vom Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien bis zum Mme Cailloux’ Skandal), dabei zugleich die tuschenlnden Damen am Nebentisch belauschen. Wir können gerade so gut aber auch ganz woanders sein. Wenn wir wollen, können wir sogar einfach in unserem Abteil bleiben und abwarten, was ohne unser Zutun passiert. Diese Entscheidungsmöglichkeiten machen viel von der Authentizität des Spieles aus.
Unser Entdeckerwille wird oft belohnt: Manches Mal hören wir an einem Ort ein Gespräch mit, das uns später weiterhilft.
Damit die einzigartige Echtzeit des Adventures nicht zum Garanten für Zeitdruck wird, hilft uns ein genial ausgedachtes Zeitsystem weiter: Wir können, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind (etwa weil wir eine entscheidende Handlung nicht zum richtigen Zeitpunkt ausgeführt haben), die Zeit bis vor diesen Moment oder noch weiter zu entscheidenden Momenten zurückspulen und unser Glück noch einmal probieren. Wir können so auch andere Entscheidungen treffen und uns andere Einblicke verschaffen.
Um den Mörder unseres Freundes zu finden, unterhalten wir uns so mit Mitreisenden, dringen in fremde Abteile und stibizen Dinge, lesen geheime Korrespondenzen und werden so mehr und mehr in eine gewaltige Verschwörung verstrickt. Das alles geschieht aber so glaubwürdig und ungekünstelt, dass es wie ein wirklich guter, „interaktiver“ Film mit historisch gut recherchiertem Hintergrund wirkt. Auch das Rätseldesign spiegelt dies wider.


Fazit

Gewöhnlich verlieren Adventures einen grossen Teil ihres Reizes, wenn man sie einmal durchgespielt hat. Bei TLE ist dies für mich anders: Es erzählt nicht nur eine „Hauptgeschichte“ – eben das Auflösen der Ermordung unseres Freundes – sondern genaugenommen eine Vielzahl von „Sub-Stories“. Die vielen Charaktere, die uns begegnen, habe allesamt, wie gesagt, ihre Geheimnisse. Das Spiel bietet verschiedene Möglichkeiten zur Annäherung, man kann es unter verschiedenen Gesichtspunkten spielen. Zwischendurch kann man sogar einfach nur Passagier sein und die interaktive Fahrt geniessen, Zeitung lesen und Gesprächen lauschen. In diesem Spiel ist einfach immer etwas los.
TLE hat etwas von einem riesigen, kunstvollen Mosaik, das sich erst nach und nach vervollständigt – ich habe das Spiel schon mindestens 10 Mal durchgespielt und beim letzten Durchgang im September immer noch neue Entdeckungen gemacht. Das kann ich von keinem anderen Adventure sagen. Wärmstens empfohlen, auch zum erneuten Durchspielen!



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#2
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Vielen dank für die Review. Es liest sich sehr leicht, sieht aber auch nach ner menge Arbeit aus.
Das Spiel mach t auf mich einen interessanten Eindruck, und ich bin mir echt am überlegen, ob ich mir das mal zulegen soll, nur mal um zu schauen, ob du nicht doch übertrieben hast Wink

Auf jeden fall: Vielen Dank für deine Arbeit
Amicus certus in re incerta cernitur
[Bild: loomawogf.png]
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#3
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@ Beule
Danke Dir! Smile
Das Review-Schreiben macht mir so langsam richtig Spass. Während mich im Moment partout kein Spiel zu begeistern vermag, spiele ich meine alten Lieblinge nochmal und möchte dann gerne meine Begeisterung teilen. Natürlich ohne Anspruch auf Objektivität Wink

Die Vollversion gibt's im Powerplay-Heft von CHIP dazu (deutsch) oder bei DotEmu. Ich empfehle die deutsche Version nachdrücklich.
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#4
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Hmm ... irgendwie kommt mir das Spiel bekannt vor WinkBig Grin.
[Bild: cgb-signaturwdjiq.png]
Du hast eine (nicht mehr ganz so) geheime Botschaft entdeckt:
"Besucht Heinrich's Spiele-Ausstellung!" ;-)


Big Grin Big Grin
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#5
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Wieder ein tolles Review. Habs auch auf der PowerPlay Sonderausgabe gefunden. Aber wenn ich es irgendwann angehe brauch ich die Zeit dazu. Da gehört das Eintauchen und Erleben der Spielwelt essentiel dazu.
Meine Zeit wird kommen.
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#6
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@Dornfeld
Danke sehr.
Das Spiel an sich dauert nicht furchtbar lange, aber man braucht schon Musse dafür, um voll einzutauchen, da hast Du schon recht. Wenigstens ein paar ruhige Abende oder ein stilles Wochenende. Am Besten mit einem guten Gläschen Cognac, stilecht. Smile
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#7
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Dann werd ich mich mit Laptop und Pfeife in die Sherlock Holmes Bar zurückziehen. Einen Steampunklaptop müsste man haben. Würde alles super zum Flair passen.

[Bild: datamancerlaptop-foot.jpg]
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#8
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Die Jagd beginnt, Watson!
So ein viktorianischer Laptop macht was her! Wink
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